Weiße*, die Dreadlocks tragen, sind bei weitem kein ungewohntes Bild. Der Artikel der deutschsprachigen Wikipedia ist mit dem Foto eines weißen Mannes illustriert, erst bei den Hintergrundinformationen finden sich daneben einige Fotografien von Schwarzen. Die Suche mit Google ergibt ein etwas heterogeneres Bild, doch auch hier stehen nach wie vor Weiße im Vordergrund – vielfach handelt es sich bei ihren Frisuren um (Werbung für) Perücken. Es dürfte schwer sein, ein linkes Zentrum zu betreten, ohne blonde, bunte oder sonstwie farbene Dreadlocks auf weißen Köpfen zu sehen. Auch ich bin weiß – und trage Dreads.
Dreadlocks sind genau wie Irokesenschnitte, gedehnte Ohrläppchen und Tätowierungen inzwischen besonders in linken Kreisen weit verbreitet. Zum einen dienen sie als Szene-Code, zum anderen als Zeichen des Widerstandes gegen eine Kultur, in der die meisten der überwiegend weißen, jungen und gebildeten Aktivist*innen ein enorm privilegiertes Leben führen. Den Ursprung dieser Symboliken kennen die wenigsten. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es eine sehr anstrengende, schmerzhafte und langwierige Prozedur ist, aus glatten Haaren Dreadlocks herzustellen. Wer sich trotzdem dafür entscheidet, scheut weder Zeit noch Mühe, dem Wunsch dieser Frisur nachzukommen. In derselben Zeit hätte jede*r von uns ein komplettes Buch über den Ursprung und die eigentliche Bedeutung dieser verfilzten Haarsträhnen lesen können – oder aber einfach die zahllosen Blogbeiträge, die dazu geschrieben worden sind. Die meisten von uns haben es (wie ich) nicht getan. Und wenn doch, haben sie das gelesene anscheinend ignoriert.
Als Ausdruck tiefer Spiritualität und Abkehr von allem weltlichen (inklusive Kämmen und Bürsten) entstammen Dreadlocks sowohl dem afrikanischen (Rastafari) als auch dem indischen (Sage, Yogi) Raum. Erst zur Zeit der Sklaverei erhielten sie durch die unzähligen gefangenen und versklavten Personen aus Indien und Afrika Einzug in die USA, wo sie später von der Schwarzen Bürgerrechts- und Black Power-Bewegung der 1950er und 1960er Jahre aufgegriffen worden sind. Gemeinsam mit dem Afro-Look wurden sie zum Symbol des Widerstandes gegen Marginalisierung, Imperialismus und weiße Schönheitsnormen.
In diesem Kontext, der mir selbst erst seit kurzer Zeit bewusst ist, wirkt es geradezu absurd, dass Weiße sich heutzutage dieser Symboliken bedienen. Doch im Gegensatz zu den vielen Schwarzen Personen, die sich durch diese Aneignung wütend und verletzt fühlen, scheint das den meisten Weißen irgendwie nicht klar zu sein. Dabei gibt es diese Kritik auch im deutschsprachigen Raum. Noah Sow hat zum Thema Augenhöhe beispielsweise schon vor Jahren folgendes geschrieben:
Imitiere nicht Schwarzsein oder verleugne nicht Dein eigenes Weißsein.
Man wird nicht weniger weiß, wenn man aus einer sozial benachteiligten Familie kommt. Man ist auch nicht weniger weiß, wenn man versucht, sich Dreads wachsen zu lassen, oder Schwarze imitiert. Du meinst es ja gar nicht böse, verhälst Dich aber leider wie ein >>guter Kolonisator<<: Du bedienst Dich Schwarzer Symbole, sogar der Befreiungssymbole, eignest sie Dir an, spielst mit ihnen und bekommst dafür von den anderen Weißen Aufmerksamkeit und/oder Bewunderung für Deinen >>Mut<< und Deine Extravaganz. Die Schwarzen Symbole werden dadurch lächerlich gemacht, weil sie durch Weiße umgedeutet und besetzt werden.
Bisher wurden die meisten Schwarzen Kulturbeiträge durch Weiße vereinnahmt und verzerrt. (…) Dir sollte klar sein, dass Du Dich aufgrund Deines Weißseins aus jeder Kultur bedienen und trotzdem am Drücker sitzen kannst. Weil viele Schwarze Deutsche diese Kombination gar nicht witzig finden, haben wir auch keine Lust, Dir zu Deinen Dreadlocks zu gratulieren.
(Sow, Noah (2009): Deutschland Schwarz Weiß: Der alltägliche Rassismus. München: W. Goldmann, S. 251-252.)
Denn genau das ist der springende Punkt: sich Dreads wachsen oder die Ohrlöcher dehnen zu lassen bedeutet noch lange nicht, weiße Privilegien abzulegen. Weiße können problemlos Dreadlocks tragen, ohne dadurch rassistische Implikationen hervorzurufen. Schwarze nicht. Mit diesem Wissen im Hinterkopf, erscheinen Dreadlocks bei Weißen eher als eine Zurschaustellung von Privilegien, denn als antirassistische Praxis.
Wird das Thema in sich als emanzipativ verstehenden Kreisen angesprochen (was leider noch viel zu selten der Fall ist, ich aber in den letzten Tagen mehrfach versucht habe), wird meistens mit einem: „Ja, aber…“ entgegnet. Weiße Aktivist*innen möchten „ihre“ Widerstandssymboliken in der Regel nicht aufgeben. Aha? Dämmert da was? Oft folgt auch das Argument, dass im Grunde alle Widerstandssymbole anderen Kämpfen und Kulturen entlehnt sind. Und das stimmt. Es ist eben schwer, einen Körper, dessen Besitz mit unzähligen Privilegien verbunden ist, als Widerstandssymbol zu inszenieren, ohne sich aus anderen, marginalisierten Kulturen zu bedienen. Wenn Weiße ihre Körper belassen, wie sie sind, werden sie in der Regel keinerlei Sanktionen erfahren (Schönheitsnormen und ähnliches mal außen vorgelassen, denn davon sind Schwarze ja mindestens genauso stark betroffen). Weiße müssen sich keine Spekulationen darüber gefallen lassen, welche Farbe ihre Haut nun wirklich hat (denn mal ehrlich, wirklich weiß ist sie doch in den allerwenigsten Fällen), ganz zu Schweigen von Vergleichen mit Tieren (mir würden da zum Beispiel Schweine einfallen, die sind auch so schön rosa) oder Fragen darüber, ob ihre Haare unter eine Dampfwalze gekommen sind. Weißsein ist in unserer rassistischen und rassifizierten Welt die Norm. Das ist ein Fakt, von dem Weiße profitieren und Schwarze eben nicht. Weiße können es sich aussuchen, für einen gewissen Zeitraum ein bisschen aus der Reihe zu tanzen und vielleicht mal den ein oder anderen skeptischen Blick zu ernten. Für Schwarze ist das Alltag – und zwar ein Leben lang.
Es steht Weißen, und somit auch mir, schlichtweg nicht zu, darüber urteilen, ob bestimmte Praktiken nun rassistisch sind oder nicht. Weiße Privilegien zu reflektieren bedeutet schließlich auch, Deutungshoheit abzugeben und damit aufhören, Schwarze Befindlichkeiten zu relativieren und in Frage zu stellen. Es reicht aus, bei Google die Wörter „dreadlocks racism“ oder „dreadlocks cultural appropriation“ einzugeben, um eine Ahnung davon zu bekommen, wieviele Schwarze Menschen sich durch weiße Dreadlocksträger*innen verletzt fühlen. Und selbst wenn es einige andere gibt, die sich dadurch nicht gestört fühlen, sind da immer noch genug Personen, die es doch tun. Dreadlocks trotz der unzähligen Blogpost zu tragen, in denen Schwarzen an Weiße mit Dreads appellieren, doch bitte zur nächsten Schere zu greifen, bedeutet sich über all jene hinwegzusetzen, ihnen ihre Gefühle abzusprechen und ihre Positionierungen als irrelevant zu erklären. Und das kann einfach kein Bestandteil antirassistischer Praxis sein. Schwarze Widerstandssymbole haben auf weißen Köpfen nicht zu suchen. Punkt. Ich für meinen Teil schaue mich gerade nach Kurzhaarfrisuren um.
*Die Kategorien weiß und Schwarz beziehen sich hier auf die An- bzw. Abwesenheit von weißen Privilegien.